Ultra-Kultur
"Die Gruppe ersetzt meine Familie"
Der Ultra, das unbekannte Wesen: Viele reden über die Ultra-Fans, aber kaum einer versteht sie. Die Pädagogen und Szenekenner Volker Goll und Michael Gabriel haben Einblicke hinter die Kulisse und versuchen, ein Phänomen der deutschen Fußball-Fankultur für alle verständlich zu erklären.
Info
Sie gehören mittlerweile zum festen Bild in deutschen Kurven: Seit mehr als 15 Jahren stellen die Ultras die größte und auch auffälligste Gruppe von Fußballfans im Stadion. Die öffentliche Wahrnehmung der Ultras allerdings ist zwiespältig.
In der Fußballberichterstattung werden sie fast ausschließlich mit problematischem Verhalten assoziiert. Dies nicht nur in Bezug auf Gewalt oder das verbotene Abbrennen pyrotechnischen Materials, sondern immer öfter wird auch gewarnt, die Ultras würden zunehmend Einfluss auf die Vereinspolitik nehmen wollen.
Trotz ihrer teilweise die Vereine schädigenden Aktionen genießen sie in der gesamten Fankultur immer noch Rückhalt. Immerhin fließt die meiste Energie in die Performance im Stadion und die sichtbare und lautstarke Unterstützung der Mannschaft. Wenn das ganze Stadion in ein von den Ultras angestimmtes Lied einstimmt oder die gesamte Hintertortribüne sich unterhakt und rhythmisch hüpft, ist "die Vereinigung der Kurve" für jede und jeden dort unmittelbar und spürbar gelungen.
Anwesenheit bei allen Spielen ist Pflicht
Die Ultras formulieren innerhalb ihres eigenen Selbstverständnisses den Anspruch, mehr als andere Fans für ihren Bezugsverein zu tun. Dazu zählt beispielsweise die Anwesenheit bei allen Spielen, die Koordination der Unterstützung der Mannschaft, aber auch die oftmals aufwendige Herstellung von Choreografien oder anderer Unterstützungsmaterialien. Vor dem Hintergrund ihres großen Engagements für die Vereine leiten viele Ultras einen Anspruch ab, die Vereinspolitik kritisch und aktiv mitzugestalten.
Dies kann auf unterschiedliche Art und Weise stattfinden: Durch Sprechchöre im Stadion, Flugblätter und Erklärungen im Internet oder auch durch den Eintritt in den Verein, um sich dort kritisch einzumischen. Hierbei schließen sich Ultras häufig schon bestehenden Organisationen wie Fanabteilungen oder Dachverbänden an. Dieses urdemokratische Engagement wird jedoch vielerorts bei Vereinen und in den Medien kritisch gesehen und als unzulässige Einmischung beziehungsweise als Versuch der Fans, "Druck auf die Vereine" ausüben zu wollen, misstrauisch beäugt und stigmatisiert.
Hinzu kommt die Erwartung, dass die Ultrakultur "24 Stunden am Tag, sieben Tage" die Woche gelebt werden soll, die Bedeutung des Gruppenlebens mindestens gleichrangig neben dem Fansein steht. Hieraus wird erkennbar, welch große Bedeutung die Ultras für ihre zumeist noch jungen Mitglieder haben kann. Dabei beobachten die Mitarbeiter der sozialpädagogischen Fanprojekte vielerorts verantwortungsvolle gruppeninterne Mechanismen, die auch auf einen fürsorglichen Blick älterer Ultras auf die jüngeren Mitglieder der Gruppe schließen lassen.
Zwei Zitate können die Bedeutung der Gruppe für deren Mitglieder illustrieren: "Für mich persönlich ersetzt die Gruppe meine Familie und hat den entsprechenden Stellenwert in meinem Leben. (…) Außerdem weiß man, dass man sich auf den anderen verlassen kann. (…) Ich fühle mich von der Gruppe gut auf das 'andere' Leben vorbereitet und weiß, dass ich immer auf sie zählen kann", sagt ein Ultra-Fan.
Ein Ultra sagt: "Das ist Liebe"
Ein anderer beschreibt es so: "Weil man sie persönlich kennen gelernt hat, weil man mit ihnen durch dick und dünn gegangen ist, weil sie einen Teil von einem selbst darstellen und vor allem, weil man sie nimmt wie sie sind, mit all ihren Fehlern, Stärken und Schwächen. Genau dieser Punkt, auch vermeintliche Außenseiter zu integrieren und ihnen das Gefühl zu geben, wichtig zu sein, und ihnen in der Gruppe Halt und vielleicht auch Familienersatz zu vermitteln - das ist Liebe."
Dieser herausragende Aspekt wird in der Wahrnehmung der Ultras durch Vereine, Polizei und Politik regelmäßig ignoriert. Andersherum hat sich auch auf Seiten der Ultras eine einseitige Wahrnehmung, ja Überhöhung der Bedeutung der eigenen Gruppe entwickelt. Hierfür steht sinnbildlich die häufig zu hörende Aussage "Wir sind der Verein".
Eine weitere zentrale Orientierung der Ultrakultur ist ihr kritischer Umgang mit den ökonomischen Zwängen im modernen Fußball. Diese kritische Haltung wird weit über die Ultraszene hinaus von großen Teilen der Fankultur geteilt, aber insbesondere von den Ultras selbstbewusst gegenüber den Vereinen formuliert.
Als Stichworte seien hier die Proteste gegen die Anstoßzeiten (insbesondere Freitags- und Montagsspiele) genannt, die zu Lasten der Besucher in den Stadien gehen, aber auch die Kritik an der Ersetzung traditioneller Stadionnamen durch Sponsorenbezeichnungen.
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