Der schlafende Riese ist erwacht
Von Sven Geisler
Das Dynamo-Heimspiel gegen den FC St. Pauli ist ausverkauft. Hat die Stadt beim Stadionneubau zu klein gedacht?
Volle Hütte. Nur vier Minuten gab es die Tickets im freien Verkauf. Ein Stadion mit mehr als 60.000 Zuschauern hätte die SG Dynamo Dresden für ihr Heimspiel gegen den FC St. Pauli füllen können, rechnete der Verein in einer Pressemitteilung selbstbewusst hoch. Schon zum siebenten Mal in dieser Saison der 2.Fußball-Bundesliga wird im Heimbereich des Glücksgas-Stadions jeder Platz besetzt sein.
Hat Dresden beim Neubau der Arena etwa eine Nummer zu klein gedacht? Rückblende: Bereits als Ende der 1990er-Jahre eine Bewerbung für die WM 2006 eher halbherzig erwogen und dafür der Umbau des Heinz-Steyer-Stadions angedacht worden war, beschränkte sich die Stadt auf eine Kapazität von etwa 30.000 Plätzen. Das war – neben der ungeklärten Finanzierung – ein wichtiger Grund, weshalb Dresden nicht zu den Spielstätten des „Sommermärchens“ gehörte. Der Weltverband Fifa fordert mindestens 10.000 Sitze mehr.
Europapokal im Steyer-Stadion
Danach passierte einige Jahre nichts. Außer dass sich die Dynamo-Fans, allen voran die Initiative „Pro RHS“ entschieden gegen einen Standortwechsel und für das Rudolf-Harbig-Stadion einsetzten. Wegen der Tradition. Obwohl das ungeliebte Ostragehege einst die Heimstätte des Klubs war. Erst 1957 erfolgte der Umzug ins kleinere Stadion aus sportlichen Gründen: Dynamo musste 1957 in die Bezirksliga absteigen, weil ein Spieler unberechtigt eingesetzt worden sein soll. Dagegen spielte der SC Einheit, heute wieder DSC, in der DDR-Oberliga. Dynamo kehrte 1962 ins Oberhaus zurück. Und für die Europapokal-Premiere 1967 sogar ins Steyer-Stadion. 40.000 Zuschauer waren dabei, als Dieter Riedel zum 1:1-Ausgleich gegen die Glasgow Rangers traf.
Nach einigem Hin und Her entschied sich der Stadtrat im Januar 2006 tatsächlich für den Neubau des Rudolf-Harbig-Stadions und beauftragte den Konzern HBM. Zur Auswahl hatten auch zwei etwas größer angelegte Projekte gestanden: Walter Hellmich plante für 35.000 Zuschauer mit der Möglichkeit, temporär auf 40.000 aufzustocken. Die Firma Strabag war von 41.700 Plätzen ausgegangen.
Doch es entstand eine neue Fußballarena für maximal 32.066 Besucher. Eine Erweiterung? Ist bautechnisch ausgeschlossen. „Für den Standort ist alles ausgereizt worden“, sagt Winfried Lehmann, für Sport zuständiger Bürgermeister in Dresden. Wegen der Platznot mussten sogar die Flutlichtmasten, die sogenannten Giraffen, gekappt werden. Für den ursprünglich vorgesehenen Trainingsplatz reicht die Fläche sowieso nicht mehr.
„Außerdem“, gibt Stadion-Manager Hans-Jörg Otto zu bedenken, „wären für die Partie gegen St. Pauli auch 40.000 oder mehr zu klein gewesen. Man kann deshalb nicht sagen, es sei zu klein geplant.“ Denn durchschnittlich kamen zu den 17Heimspielen der SGD rund 24.800 Zuschauer, wobei die Ränge gegen den FCIngolstadt leer bleiben mussten. Dass trotzdem 34.634 „Geistertickets“ verkauft wurden, war ein Zeichen für die emotionale Verbundenheit der Fans.
Von der Oma bis zum Enkel
„Wir haben immer von einem schlafenden Riesen gesprochen“, sagt Dynamo-Präsident Andreas Ritter: „Jetzt ist er erwacht.“ Dresden sei eine fußballverrückte Stadt, und mit dem Erfolg und dem attraktiven Stadion würden die Spiele „immer mehr zu einem gesellschaftlichen Massenevent“. Der Trend ist erkennbar: In Familie ins Stadion, von der Oma bis zum Enkel. So werden die Plätze knapp.
Lediglich 1.500 Tickets gab es für die Partie gegen den FCSt. Pauli im freien Verkauf. Die anderen waren durch Jahreskarten (7.000) und Gäste-Kontingent (2.400) weg oder an Vereinsmitglieder gegangen. Dabei hatten nicht alle der 11811 Mitglieder von ihrem Vorkaufsrecht für zwei Tickets Gebrauch gemacht. Ritter verteidigt die Verkaufspraxis: „Der Verein gehört seinen Mitgliedern.“ Unter anderem für den ersten Zugriff auf die Karten zahlen die jährlich 72Euro Beitrag, für Familien mit zwei Kindern sind es 140 Euro. „Ich lade jeden ein, Dynamo-Mitglied zu werden“, sagt der Präsident. Sollten die Karten irgendwann auch für die nicht mehr reichen, müsste eine neue Regelung gefunden werden. So werden beim FCBayern die 69.000 Tickets für die Münchner Arena unter den knapp 180.000 Mitgliedern verlost.
Trotz der Kapazitätsgrenze im Dresdner Stadion erklärt Ritter: „Es hat für unsere Verhältnisse die richtige Größe.“ Vor allem aus Kostengründen. Durch die höheren Zuschauereinnahmen steigen auch die Abgaben an die Stadionprojektgesellschaft von HBM um etwa 200.000 Euro. Insgesamt muss Dynamo für diese Saison fast 4,5 Millionen Euro für die Nutzung der Spielstätte zahlen, wovon die Stadt 1,2 Millionen übernimmt.
„Wir zahlen die mit Abstand höchste Miete in der zweiten Liga. Wenn wir die auf ein größeres Stadion hochrechnen, wäre das der finanzielle Ruin“, sagt Ritter. Ohne den Zuschuss der Stadt zu den Stadionkosten wäre es nicht möglich, eine konkurrenzfähige Mannschaft zusammenzustellen. „Die 1,2 Millionen könnten wir nur im Profi-Etat kürzen, alle anderen Sparpotenziale sind ausgereizt.“ Bürgermeister Lehmann kündigt weitere Gespräche an. „Mir wäre es recht, wenn wir eine längerfristige Lösung finden.“ Den bisherigen Kompromiss hatte der Stadtrat im März2011 für diese und die nächste Spielzeit beschlossen.
Für die neue Saison plant Dynamo mit durchschnittlich 23.000 Besuchern. Derzeit wird nach einer Lösung gesucht, die sogenannten Pufferzonen zwischen Heim- und Gästebereich zu verkleinern. Aus Sicherheitsgründen müssen bis zu 3.000 Plätze frei bleiben, selbst wenn nur wenige Anhänger des Gegners anreisen. Deshalb wird die offizielle Zuschauerzahl am Sonntag nicht 32.066 sein, sondern bei rund 29.000 liegen.
Und Tausende müssen draußen bleiben. „Es tut mir für jeden Fußballfan leid, der unsere Mannschaft spielen sehen und die großartige Stimmung genießen will“, erklärt Ritter. Die „Ultras Dynamo“ wollen diesmal das gesamte Stadion in ihre Inszenierung vor dem Anstoß einbeziehen. Schon mehrmals hatten sie in dieser Saison mit ihren Choreografien beeindruckt. Beispielsweise, wenn sie eine riesige Fahne mit der Dresdner Stadtkulisse über den gesamten Stehplatzblock ziehen. Für solche Aktionen ist der Präsident dankbar. „Die Ultras gehören zur Fankultur. Sie sorgen für die einmalige Atmosphäre.“ Ritter fügt aber hinzu: „Solange es friedlich und ohne Pyrotechnik abgeht.“
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